
Was, wenn er zum Klassenzimmer der Zukunft wird – zum Spielfeld für Ideen, zur Bühne für Selbstwirksamkeit, zum Trainingscamp für echte Verbundenheit? In einer Welt, die immer digitaler, schneller und komplexer wird, bietet der Garten einen radikal einfachen Gegenentwurf: Erde unter den Fingern, Zeit im eigenen Rhythmus, Lernen im Tun. Dieser Artikel ist eine Einladung, unsere Vorstellung von Bildung, Arbeit und Gemeinschaft neu zu denken – vom Boden aus.
Gastbeitrag von Ing. Matthias Jünger, MBA , garden-shop.at | 08.05.2025
Warum der Garten mehr ist als ein Rückzugsort
Früher war der Garten für mich einfach nur… naja, ein Ort zum „Werkeln“. Ein bisschen Unkraut jäten, ein bisschen Salat pflanzen, ab und zu meditativ den Rasen mähen. Aber irgendwann – wahrscheinlich mit der ersten eigenen Tomatenpflanze, die ich aus einem fast vergessenen Samen großgezogen habe – ist mir klar geworden: Der Garten ist kein Rückzugsort. Er ist ein Resonanzraum. Da draußen, zwischen Erde und Blattwerk, wächst nicht nur Gemüse – da wächst auch mein Blick auf die Welt. Und dieser Blick hat sich seither immer weiter geöffnet.
Was der Garten mir beigebracht hat? Geduld. Und dass es keine App für Wachstum gibt. Kein Shortcut. Wenn du heute säst, wirst du nicht morgen ernten – vielleicht nicht mal nächsten Monat. Aber du wirst lernen, genau hinzuschauen. Auf feuchte Erde. Auf welkende Blätter. Auf kleine Wunder, die in aller Stille geschehen. Dieser stille Dialog mit der Natur ist wie ein Gegenmittel zur Dauerüberforderung, die uns der Alltag oft um die Ohren schlägt. Der Garten macht leise – aber wach.
Ich glaube: Der Garten ist ein Gegenentwurf zur Reizüberflutung. Statt Dopamin auf Knopfdruck gibt’s hier Demut im Dreck. Und genau das macht ihn so zukunftstauglich. Während draußen die Welt sich immer schneller dreht, bietet der Garten einen Ort, wo man Prinzipien wie Kreislaufwirtschaft, Achtsamkeit und Selbstverantwortung ganz praktisch erlebt – nicht als Buzzwords, sondern als Handgriffe. Er wird so zum Lernfeld, zum Spielplatz, zum Experimentierraum. Und zur Einladung: sich wieder als Teil eines großen Ganzen zu begreifen – statt als getriebener Einzelkämpfer.

Abbildung 1: Ein kleines Korn, ein großer Anfang © Markus Spiske / unsplash.com (2020)
Pädagogik im Grünen – Was Saatgut mit Selbstverantwortung zu tun hat
Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal, als ich mit Kindern im Garten gearbeitet habe. Ein kleiner Junge, vielleicht sieben Jahre alt, hatte eine Handvoll dicker, brauner Bohnensamen bekommen. Wir sprachen kurz darüber, wie tief man sie setzt, und dann verschwand er schweigend hinter dem Hochbeet. Zwei Wochen später kam er zurück – nicht mit einer Bohne, sondern mit leuchtenden Augen. „Ich hab sie gegossen! Jeden Tag! Sie ist echt gewachsen!“ Das war kein Biologieunterricht. Das war gelebte Selbstwirksamkeit. Und genau das fehlt oft in der klassischen Pädagogik.
Wenn ein Kind ein Samenkorn in die Erde setzt, lernt es mehr als Botanik. Es lernt Verantwortung – im ganz wörtlichen Sinn: Es ist verantwortlich, dass da etwas wächst. Und es lernt Vertrauen. In sich selbst. In den Rhythmus der Natur. In die Kraft von kleinen Dingen. Genau hier, zwischen Erde und Hoffnung, kann Bildung wieder ganzheitlich werden. Weg vom Bulimie-Lernen hin zum echten Begreifen.
Zukunft säen – konkret & lokal
Was mich wirklich inspiriert, sind die Menschen und Projekte, die das „Zukunft säen“ nicht nur als schöne Metapher verstehen, sondern als ganz reale Handlung. Die Hamburger Klimaschutzstiftung(1) bringt zum Beispiel Kinder auf biologische Felder, um dort selbst auszusäen. Nicht im übertragenen Sinn – sondern ganz praktisch, mit dreckigen Fingern und neugierigen Blicken. Und genau dort beginnt ein neues Verständnis: für Nahrung, für Herkunft, für Verantwortung. Die Frage ist also nicht, ob wir säen – sondern was wir säen. Und mit welchem Bewusstsein.
Auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften(2) bringt es auf den Punkt: Saatgut steht heute sinnbildlich für kulturelle Resilienz. Für Vielfalt, für Autonomie, für Zukunftsfähigkeit. Wer Vielfalt sät, wird nicht nur Gemüse ernten – sondern auch Dialog, Respekt und Widerstandskraft. Und das ist in einer Welt, die sich ökologisch, politisch und sozial im Umbruch befindet, vielleicht wichtiger denn je. Denn dort, wo Saatgut getauscht und gepflegt wird, wird auch Wissen geteilt. Es entsteht eine Kultur des Gebens – im besten Sinne.
Ein weiteres Projekt, das ich gerne erwähne, ist Lebendige Erde(3). Dort wird sichtbar, dass das Säen und Ernten nicht nur landwirtschaftliche Prozesse sind, sondern auch soziale. Die Idee: Saatgut als Medium der Verständigung. Alte Sorten als Brücke zwischen Generationen. Das klingt vielleicht poetisch – ist aber tief pragmatisch. Denn wer Saatgut bewahrt, bewahrt Zukunft. Nicht als Rückschritt, sondern als bewusst gewählte Verankerung. Damit Neues auf fruchtbarem Boden wachsen kann.

Abbildung 2: Zukunft säen © Vince Veras / unsplash.com (2020)
Vision: Garten als Lebensschule für alle Generationen
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn jedes Quartier einen Gemeinschaftsgarten hätte – nicht als hippe Stadtoase mit Hochbeetästhetik, sondern als echter Lernort. Ein Ort, an dem Kinder lernen, dass Karotten nicht aus Plastikverpackungen kommen. An dem Senior:innen ihr Wissen über alte Sorten weitergeben. An dem Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen sich über Zwiebeln, Kompost und Wurmkisten begegnen. Kein Frontalunterricht, keine Tests. Sondern Lernen im Tun, im Scheitern, im Fragen. Und genau da beginnt Bildung, die den Namen verdient.
Der Garten hat das Potenzial, unser Bildungssystem zu ergänzen – oder zu entwirren. Denn hier gibt es keine Schulfächer. Hier fließen Ökologie, Ethik, Handwerk, Sozialkompetenz und Kreativität ineinander. Wer säen will, muss fühlen. Wer ernten will, muss warten können. Und wer mit anderen gemeinsam gärtnert, muss kommunizieren – mit Worten, mit Gesten, mit Rücksicht. Der Garten als Lebensschule braucht kein Whiteboard. Er braucht nur Menschen, die bereit sind, wieder mit den Händen zu denken.
Video 1: Vielfalt säen, Zukunft ernten: Kulturpflanzen, alte Sorten und Saatgut © Patrick Kaiser Gen Bänkle (2022)
Schlusswort & Aufruf: Was kannst du morgen schon in die Erde bringen – ganz ohne Garten?
Zukunft säen heißt nicht zwingend, ein Beet im eigenen Garten anzulegen. Es kann auch bedeuten, eine alte Sorte zu verschenken. Mit einem Kind eine Pflanze großzuziehen. Oder einfach zuzuhören, wenn jemand über seine Erfahrungen mit dem Boden spricht. Der Garten – ob real oder im übertragenen Sinn – lädt uns ein, Verantwortung zu übernehmen. Nicht als Last, sondern als schöpferischen Akt. Er lehrt uns, dass Wandel bei uns beginnt. Und dass Zukunft nicht geplant, sondern gepflanzt wird. Mit Zeit, mit Hingabe und mit offenen Händen.
Wenn du also gerade keinen Garten hast – kein Problem. Vielleicht ist deine Zukunftssaat ein Gespräch. Vielleicht ein geteiltes Video. Vielleicht ein Gedanke, der wurzelt. Die Erde wartet nicht auf perfekte Lösungen, sondern auf mutige erste Schritte. Deshalb: Lass uns säen, zuhören, verbinden. Und dann schauen, was wächst.
Quellen
Österreichische Akademie der Wissenschaften. (2023, Oktober 12). Die Zukunft säen. https://www.oeaw.ac.at/news/die-zukunft-saeen
Hamburger Klimaschutzstiftung. (o. J.). Zukunft säen – Bio-Landwirtschaft zum Anfassen. https://www.hamburger-klimaschutzstiftung.de/projekte/zukunft-saeen/
Lebendige Erde. (o. J.). Zukunft säen. https://www.lebendigeerde.de/index.php?id=70
Kurzporträt des Autors
Ing. Matthias Jünger, MBA, betreibt die Plattform Garden-Shop.at und verbindet damit seine Leidenschaft für nachhaltiges Gärtnern mit fundiertem Wissen über Permakultur und Waldgärten. Als begeisterter Hobbygärtner experimentiert er gerne mit klimaresilienten Anbaumethoden, Bodenverbesserung und effizientem Wassermanagement.
Durch seinen Online-Shop für Gartenbedarf hat er direkten Kontakt zu den Herausforderungen, mit denen Gärtner heute konfrontiert sind – von Trockenperioden bis hin zu nachhaltigen Anbaulösungen. Sein Ziel: Praxiserprobte Strategien und hochwertiges Equipment für eine zukunftsfähige Gartenkultur zugänglich machen.
Mit seinem Fachwissen teilt er in diesem Artikel bewährte Methoden und Inspiration, um Waldgärten optimal an den Klimawandel anzupassen – für resiliente, produktive und nachhaltige Ökosysteme.
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