Wolf Lotter: „Was in Zukunft wichtig wird“ (Gastbeitrag #15)

(c) 2021 Katharina Lotter

😊 …Moin Moin… 😊

…manchmal muss man sich einfach trauen und machen. Nun hat es schon das zweite Mal geklappt, dass ich eine sehr bekannte Persönlichkeit einfach mal angeschrieben habe und Daumen gedrückt habe. Und nun ist er fertig: Der nächste Gastbeitrag von keinem geringeren als Wolf Lotter !!!

Seine Gedanken zur Frage „wie wollen wir leben, lernen und arbeiten?“ hat er in einem kleinen Essay zusammengefasst.

Viel Spaß beim lesen !!!


Wolf Lotter, schreibt und spricht seit mehr als 30 Jahren über die Transformation von der Industrie zur Wissensgesellschaft, war u.a. Mitgründer von brand eins und langjähriger Leitessayist, Kolumnist für „tazFuturZwei“ und zahlreiche Medien und Rundfunkanstalten. Seine Bücher „Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken“ (2018) und „Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“ (2020) sind Bestseller, ebenso der 2021 erschienene Band „Strengt Euch an! Warum sich Leistung wieder lohnen muss.


Was in Zukunft wichtig wird, ist ein neues Menschen- und Leistungsbild, bei der der Sprung von der Quanität der Konsumgesellschaft in die Qualitätswelt der Wissensarbeit gelingt.

Das heißt mehr geistiges Wachstum ohne postmaterielle Illusionen.

Strengt Euch an!

Die Transformation von der alten Fabriks- zur neuen Wissensgesellschaft braucht weniger Fleiss und Disziplin als eine neue Leistungsbereitschaft beim Denken und Wissen.

Darin ist unsere Kultur nicht gut. Das muss sie üben. Und zwar schnell. 


Im Jahr 1949 schrieb Bert Brecht sein Gedicht “Wahrnehmung”. Darin heißt es: “Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns/Vor uns liegen die Mühen der Ebene.” Das war weitsichtig in einer Zeit, in der die meisten vor dem Abgrund standen oder den totalen Absturz nur unter Mühsal überlebt hatten. Der Krieg und die Not, die auch danach noch herrschte, schien kaum mit einer ebenen Fläche vergleichbar zu sein. 

Es war ein Krieg gewesen, in dem die Industrie nicht nur die Waffen geliefert hatte, die Munition, die Geräte für den Massenmord, sondern, bis heute weitgehend übersehen, die geistige Grundlage für das Morden selber. Wie ein Rädchen im Getriebe Befehle auszuführen, das war die Grundlage des Mordens im Kollektiv ohne Individualschuld. In dieser Welt, die den Menschen zum Maschinenteil macht, ist Abweichung und Unterschied eine verachtenswerte Untugend. Vielfalt stört. Wer anders ist, macht nicht nur die Abläufe kaputt, er verweigert auch den Befehl. Im günstigsten Fall, den wir alle heute erleben, steht auf Befehlsverweigerung die soziale Todesstrafe. 

Industrie leitet sich von Industria ab, von Fleiss. Das kann man, im besten Sinne, als ausdauerndes Arbeiten, als hartnäckiges Dranbleiben an der Sache verstehen, die es auch dort braucht, wo Ideen und Vorstellungen, also Wissensarbeit, Realität annehmen. Diese Ideen sind heute der Rohstoff, aus dem Neues erwächst, bessere Lösungen, mehr Vielfalt, mehr Diversity im eigentlichen Wortsinn. Doch viel öfter dient der Fleiß nicht dieser unternehmerischen Geschäftigkeit, sondern der stupiden Routine. Das Weitermachen wie bisher, es ist in Fragen des Klimas und der Transformation zu einer Welt, in der Komplexität und Vielfalt besser erschlossen werden, um Probleme und Bedürfnisse genauer zu lösen, dieses routinierte Weiterwursteln ist immer noch die Regel, nicht die Ausnahme. Dabei läßt sich durchaus einiges erreichen, wie der Wohlstand der Konsumgesellschaft zeigt. Doch all das dient fast immer nur dem Weiter-So als dem Besser-Wäre. Die Mühen der Ebenen haben kein Ziel vor Augen, keinen Sinn. Und sie sind uns immer noch kulturell fremd. Arbeit, das ist Schweiss und Tränen, hartes Malochen, Schuften bis zum Umfallen. Doch blinder Eifer schadet nur.


Bücher von Wolf Lotter

Wer die Mühen der Gebirge kennt, der hat sowas, doch was, wenn man dann am Gipfel steht und dort nur ein trostloses Plateau vorfindet, eine endlose Weite, die keinen Anhaltspunkt bietet? Die Mühen der Ebene sind perfide, in den endlosen Weiten kann man überallhin – und damit nirgends. Das erinnert an die österreichischen Autoren, Schauspieler und kritischen Geister der Nachkriegsgesellschaft, an Carl Merz und seinen Helmut Qualtinger, der als Halbwilder mit seiner “Maschin” zwar nicht weiß, wo er hinwill, dafür aber schneller dort ist. Rasender Stillstand nannte das der französische Philosoph Paul Virilio einmal. Die Ebenen sind materiell komfortabel, aber geistige Nulldiät. Unsere materielle Arbeit wird zusehends von Robotern, Algorithmen, Automaten erledigt. Die Digitalisierung ist ein enormer Automationsschub.


Die Leistung, die unsere Werkzeuge verrichten, ist historisch einmalig. Aber sie kann nur dann ihren Segen, ihren Sinn entwickeln, wenn möglichst viele sich beim Denken ein wenig anstrengen – sozusagen als Ausgleichssport für das Weniger an Kraftanstrengung, das im Langen Marsch durch die Ebenen erforderlich ist. Es braucht geistige Fitnesscenter, in denen wir unsere intellektuellen Muskeln stählen. Ideen, die kein Ziel haben, gehen verloren. Sie sind traurige Restbestände jener unzähligen Visionen und Utopien, die nie auf den Boden kommen. Woran liegt das? Oft daran, dass man das Tun aufs Morgen verschiebt, die Selbstverantwortung gleich mit. In einer Zivilgesellschaft gilt natürlich auch in geistiger Hinsicht das Subsidiaritätsprinzip – lass nicht andere für dich denken, mach das selber. Das hat nichts mit vernunftfreiem “Querdenken” zu tun, sondern ist unabdingbarer Teil jenes kritischen und selbstkritischen Prozesses, zu dem Selbstbestimmung führen soll. Wir sind fleissig, aber wir strengen uns zu wenig an. Was bedeutet Leistung also in der Wissensgesellschaft? 

Zuallererst: SELBERMACHEN. Die Lösung und Bewältigung der Klimakrise, zukunftssichere Sozialsysteme und eine neue, bessere Arbeitswelt brauchen unseren vollen Einsatz. John F. Kennedy hat in seiner Mondflug-Rede von 1961 versprochen, einen Menschen auf den Mond zu bringen, nicht weil es leicht ist, sondern schwer. Genau das ist der Anspruch, den sich die vielfältigen Kulturen Europas gemeinsam geben sollten. Unser Können, unser Know How muss originär sein, sich in Qualität deutlich abheben von allem, einen deutlichen Unterschied machen. 

Entscheidend beim Leitungsschub wird sein, dass das seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, pessimistische Selbstbild der Europäer einem nüchternen, offenen Zukunftsoptimismus weicht. Niemand verändert sich ohne Aussicht auf Besseres, und niemand strengt sich – für geistige Arbeit gilt das noch mehr als für körperliche – an, wenn kein Sinn, kein Warum dahinter steckt. Die Suche nach dem “Purpose” hat eben erst begonnen. Sie ist der Kern der neuen Leistungsgesellschaft, in der es eben nicht mehr um stures Parieren, um Mitmachen, Einordnen, Anpassen geht, sondern um echte Individualität, bei der jede und jeder sich anstrengt, so gut es geht, um ein Leben zu führen, dass mehr ist als die Zeitspanne zwischen zwei sozialversicherungstechnischen Ereignissen – der Geburt und dem Tod. Reden allein hilft nicht, Selbstverantwortung schon. Es gilt der Satz von Ernst Bloch aus „Das Prinzip Hoffnung“: Wir müssen “ins Gelingen verliebt sein”. Das zu lernen ist die Aufgabe nicht nur der Jungen, sondern auch der Alten. Kein Weiter So, aber eben auch kein Rückbau, kein Schrumpfen, kein Zurück. Die Hoffnung liegt vor uns, hinter der eintönigen Ebene liegt ein weites Land. Dafür brauchen wir weder eine Utopie noch eine Vision, sondern nur Verstand und Sachlichkeit. Das wäre die Revolution der Vernunft, der Sieg der Realität über die selbstverschuldete Unmündigkeit (Immanuel Kant) die dieses Land und seine Kultur und Menschen immer noch in Geiselhaft hält.  


Lieber Herr Lotter, ein ganz großes Dankeschön für ihren Beitrag hier auf meiner Homepage zu der Frage „wie wollen wir in Zukunft leben, lernen und arbeiten?“

Ich bin mir sicher, dass Sie auch mit diesem Text wieder einige zum nachdenken anregen werden und eine belebte Diskussion in Gang setzen werden.

Vielen Dank dafür !!!


Wir haben auch dich inspiriert? Du möchtest auch mal einen Gastbeitrag bei mir schreiben oder mehr über meine Projekte erfahren? Dann schreibt mir eine Nachricht oder lest euch die anderen Beiträge durch.

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